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Seelen-Tsunami

von Bernd Ruf

Am 28. September 2018 erschütterte ein schweres Erdbeben mit anschließendem Tsunami der Stärke 7,4 den Norden der indonesischen Insel Sulawesi. Betroffen war vor allem die Küstenstadt Palu. Dorthin reiste ein 15-köpfiges notfallpädagogisches Kriseninterventionsteam der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, um betroffenen Kindern bei der Bewältigung ihrer Traumata zu helfen.

Am 28. September 2018 erschütterte ein schweres Erdbeben mit anschließendem Tsunami der Stärke 7,4 den Norden der indonesischen Insel Sulawesi. Betroffen war vor allem die Küstenstadt Palu. Dorthin reiste ein 15-köpfiges notfallpädagogisches Kriseninterventionsteam der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, um betroffenen Kindern bei der Bewältigung ihrer Traumata zu helfen.

Risky betreibt eine kleine Kaffeerösterei in Palu. Als das Beben Palu erschüttert, und mehrere Tsunamiwellen von bis zu zwölf Metern Höhe und 800 Stundenkilometern Geschwindigkeit Tod und Zerstörung über die Stadt bringen, befindet er sich mit seiner Frau in seinem kleinen Café-Shop am Strand. Als sie die Wellen kommen sehen, flüchtet seine Frau panisch, während er seinen Motorroller holen will. Dann trifft ihn die Welle. Er verliert das Bewusstsein und kommt erst wieder zu sich, als ein Mann an ihm rüttelt. Risky rennt zu seinem Haus. Die Erleichterung kommt erst etwa drei Stunden später. Seine Frau kommt nach Hause. Auch sie hat überlebt.

Soviel Glück hatten viele Andere nicht. Es wird vermutet, dass über 15 000 Tote und mehrere zehntausend Verletzte zu beklagen sind. Alleine in der Innenstadt von Palu kamen über 3000 Menschen beim Einsturz eines Einkaufszentrums und bei der Zerstörung von Hotelanlagen ums Leben. Besonders katastrophal traf es den Stadtteil Balaroa. Dort drückte das Beben das Grundwasser in die oberen Sandschichten. Die dadurch entstehende Auflösung der Sandstruktur führt zum seltenen Phänomen der Erdverflüssigung. Über tausend Häuser mit geschätzten 5000 Bewohnern versanken im Schlamm und wurden von der Erde verschluckt. Die Überlebenden hausen jetzt in notdürftigen Unterkünften aus Plastikplanen und müssen auch 14 Tage nach dem Beben täglich um ihr Überleben kämpfen. Am härtesten werden bei solchen Katastrophen immer die Schwächsten getroffen: Arme, Alte, Kranke, Behinderte- und natürlich Kinder. Viele sind schwer traumatisiert.

Nach einer Traumatisierung ist nichts mehr, wie es vorher war. Risky und seine Frau leiden seit dem Tag des Bebens an panischen Ängsten, Albträumen und Schlafstörungen. Ausgelöst durch die vielen, teils heftigen Nachbeben, werden sie in sogenanntenFlashbacks immer wieder in ihrem Erleben in die Katastrophe zurückgeworfen. Risky stürzt sich mit wildem Aktionismus in seine Arbeit, um die schmerzhaften Erinnerungen zu verdrängen. Bei seinen schon jugendlichen Kindern sind Regressionserscheinungen, wie Bettnässen oder Babysprache, aufgetreten. In Palu zeigen viele weitere Kinder ähnliche Symptome, aber auch Ess- und Verdauungsstörungen, Gedächtnis-und Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrationsprobleme, depressive Tendenzen oder sozialer Rückzug sind zu beobachten. Derartige Symptome sind in den ersten Wochen und Monaten nach Extremstresserfahrungen eine völlig normale Reaktion. Sie sind Zeichen einer psychischen Verletzung. Gelingt es, diese Wunden fachgerecht zu versorgen und seelische Infektionen zu vermeiden, können Traumafolgestörungen vermieden werden. Notfallpädagogik ist eine solche Erste Hilfe für die Seele.

Jeder Schock fährt dem Betroffen buchstäblich in die Glieder. Traumatisierungen führen immer zu Blockaden, Erstarrungen und umfassenden Rhythmusstörungen. In der Psychologie spricht man vom Freeze-Zustand. Solange die Erstarrungen anhalten, können die seelischen Wunden nicht heilen.

In der Schule des vom Erdbeben völlig zerstörten Dorfes Lombonga nördlich von Palu, wird während der notfallpädagogischen Intervention mit fast 670 Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Mit Rhythmusübungen, Bewegungsspielen und mittels erlebnispädagogischer Ansätze wird versucht, die Blockaden zu lösen und die gestörten physiologischen und psychischen Rhythmen wieder zu harmonisieren. In der Nähe von Lombonga wurde mitten im bergigen Palmenwald-Dschungel
eine zeltartige provisorische Notunterkunft errichtet. Mit über 130 Kindern wird dort getanzt, gesungen, gemalt und gezeichnet. Mittels künstlerischer Aktivitäten sollen kreative Ausdrucksmöglichkeiten geschaffen werden, um all‘ dem einen alternativen Ausdruck zu verschaffen, was den Betroffenen die Sprache verschlagen hat.

Der vom Erdboden verschluckte Stadtteil Balaroa bildet das Herzstück der Tragödie von Palu. Obwohl noch Tausende von Opfern unter den Trümmern im Erdreich liegen, wurden inzwischen die Bergungsarbeiten eingestellt, zu unwahrscheinlich ist es, nun noch Überlebende zu finden. Überall in der Luft liegt Verwesungsgeruch. Direkt an der Abbruchkante steht die Schule Madrasah Ibtidaiyak Neger. Wie viele Kinder, Eltern und Lehrer dieser Schulgemeinschaft zu den Opfern der Katastrophe gehören, ist bis heute unbekannt. Die Schulleiterin befürchtet Schlimmstes. Sie weiß aber auch, dass die Schule nach einer derartigen kollektiven Traumatisierung eine zentrale Funktion für die seelische Gesundheit der Kinder einnimmt. Um ihre traumatischen Erstarrungen zu lösen, müssen sie zunächst wieder ein Sicherheitsgefühl entwickeln können. Die Schule muss deshalb jetzt in besonderer Weise zu einem sicheren Ort für Kinder werden, an dem die traumatischen Wunden versorgt werden und Heilung möglich ist. Vor allem liebevolle Zuwendung, verlässliche Beziehungsangebote, heilende innere Bilder in Form von Märchen, Geschichten und Biographien, die Wiederherstellung von haltgebenden Alltagsstrukturen und Ritualisierungen, die in einer im Chaos versunkenen Welt neue Orientierung bieten, sind jetzt notwendig, hilfreich und heilsam. Die Notfallpädagogen aus Deutschland, Argentinien, Norwegen und der Schweiz beraten und unterstützen ihre indonesischen Kollegen beim Aufbau einer Schule als sicherem Ort.

Wer als Erwachsener traumatisierten Kindern nach einer Katastrophe beistehen will, muss selbst psychisch stabil sein. Doch natürlich leiden nicht nur die Kinder an den Folgen ihrer oft furchtbaren Erlebnisse, sondern auch ihre Eltern und Lehrer. Darüber hinaus können sie meist die Traumareaktionen der Kinder nicht richtig einordnen. Oft missinterpretieren sie die Symptome und verschlimmern die Traumata durch unangemessene Erziehungsmaßnahmen. Deshalb werden in Palu auch psychoedukative Elternberatungen im Gruppensetting angeboten und in Zusammenarbeit SKP-HAM, einer Partnerorganisation von Caritas-Germany, notfallpädagogischen Fortbildungen für Lehrer und Erzieher an der Universität von Palu durchgeführt.

Jede Krise ist immer Gefahr und Chance zugleich. Unbewältigte Traumata haben das Destruktionspotential, ein Leben nachhaltig aus der Bahn zu werfen. Bewältigte Traumata dagegen können ebenso nachhaltige Resilienzen bilden und zu einer Persönlichkeitsreifung beitragen. Auch in der indonesischen Erdbebenregion von Palu versuchen Notfallpädagogen durch die frühen Interventionen, die Kinder bei ihrer Verarbeitung der oft extremen Stresserlebnisse zu unterstützen und dadurch mögliche Traumakrankheiten abzuwehren. Sie versuchen, die eingetretene leidvolle Krise in eine zukünftige biographische Chance zu verwandeln.

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